„Darf ich mit einer Herzerkrankung oder einem altersschwachen Herz noch hinters Steuer?“, eine Frage, die weder Mediziner, Politiker noch Statistiker zuverlässig beantworten können. Die Versicherungswirtschaft zählte 2009 zwar rund 200 schwere Verkehrsunfälle als Folge von Bewusstlosigkeit oder Herzinfarkt am Steuer, andere Statistiken gehen aber von mehr als 4.000 aus. Trotzdem ist der „Herzinfarkt am Steuer“ ein seltenes Ereignis, darin sind sich Unfallforscher einig. Andererseits fordert der demografische Wandel Lösungen, denn immer mehr ältere Autofahrer – häufig mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen – sind auf den Straßen unterwegs.
Nach verkehrsmedizinischen Untersuchungen steigen bei Stress die Herzfrequenz und der Blutdruck. Nach Auswertung des Statistischen Bundesamtes gelten Stress oder Müdigkeit als wesentliche Faktoren für Fehleinschätzungen, die dann Ursache für etwa die Hälfte aller Verkehrsunfälle sind. Was liegt also näher, als fahrdynamische Parameter wie beispielsweise die Lenkwinkel-Messung und physiologische Stresssignale wie die Herzrate rechtzeitig zu interpretieren, um damit Unfällen vorzubeugen? Denn Autofahrer mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben ein um 23 Prozent höheres Unfallrisiko.
In Aachen hat der Philips Lehrstuhl für medizinische Informationstechnik der RWTH gemeinsam mit dem europäischen Ford Forschungszentrum ein Mess- und Analysesystem zur Herzfrequenz entwickelt und in einen Autositz integriert. So wie Matten zum berührungslosen Messen von Puls und Blutdruck bei bettlägerigen Patienten eingesetzt werden, will Ford mit kapazitiven Elektroden in der Rückenlehne den Autofahrer überwachen. Pim van der Jagt, Geschäftsführer des Ford Forschungszentrums: „Mit unserem System lassen sich Herzrhythmusstörungen, insbesondere das Kammerflimmern, sowie ein drohender Infarkt oder auch ein vorausgegangener Infarkt zuverlässig erfassen.“ Solche biologische Signale erkennt man auf einem Elektrokardiogramm (EKG).
Im Heart Rate Monitoring Seat erfassen sechs Sensoren die Herzfrequenz kontaktlos. Kapazitive Sitzelektroden (inklusive Kondensator und Signalverarbeitungssoftware) sind dazu in der Rückenlehne integriert. Bei Anzeichen von Herzrhythmusstörungen beim Fahrer oder einem Infarkt, erfolgt ein Notruf und die Daten können direkt zum Rettungsdienst übertragen werden. Forschungschef Pim van der Jagt: „Verliert der Autofahrer nach einer Attacke die Kontrolle übers Fahrzeug, könnte zukünftig in Verbindung mit aktiven Sicherheitssystemen sogar das Fahrzeug sicher zur Seite gelenkt und angehalten werden.“ Um zu testen, wie zuverlässig solche Messungen im realen Fahrbetrieb funktionieren, integrierten die Ingenieure das System in einen Ford S-MAX. 60 Probanden ließen im Fahrersitz Messungen über sich ergehen, ausgewählte Autofahrer wurden dann auf Stadt- und Landstrecken geschickt. Bei 95 Prozent ließ sich zuverlässig ein EKG erfassen, durch die Kleidung hindurch. Bei einem herzkranken Autofahrer erkannte es sogar die dauerhaften Herzrhythmus-Störungen.
Dabei zeigte sich auch, dass bei Autobahnfahrten das System sehr zuverlässig arbeitet. Anders im Stadtverkehr: Schlaglöcher oder größere Lenkbewegungen beeinflussten die Messungen, waren aber dennoch akzeptabel. Mit Beschleunigungssensoren auf der Rückseite der Elektroden lassen sich solche Messfehler einschränken. Und je nachdem welche Kleidung die Autofahrer trugen, variierten die Ergebnisse. Ein- oder zweilagige Baumwollbekleidung scheint optimal, Polyester, Seide oder Mischgewebe weniger. „Die Elektroden müssen noch optimiert werden, beispielsweise mit Textilsensoren“, erklärt Pim van der Jagt, „denn Körpergröße und Lage der Herzachse des Fahrers könnten Messwerte verfälschen“. Er geht davon aus, dass in etwa fünf Jahren die Marktreife erreicht sein könnte.
Auch andere Automobilhersteller und Forschungsinstitute beschäftigen sich mit der präventiven Messung. Im Projekt „Smart-Senior – Intelligente Dienste und Dienstleistungen für Senioren“ entwickelt beispielsweise BMW einen Nothalte-Assistenten, der das Auto sicher zum Fahrbahnrand hin abbremst. Und mit dem Forschungsprojekt „Insitex“, an dem Daimler beteiligt ist, sollen auch Sensoren direkt in Textilien integriert werden und dann Biosignale wie EKG, Atmung oder Hauttemperatur erfassen. Die Miniaturisierung der Elektronik und intelligente Materialen ermöglichen viele Anwendungen im Auto. Möglich wäre auch ein Einsatz im Lenkrad: Legt der Fahrer seine Hände aufs Steuer, erfasst die Elektronik die Herzfrequenz. Mit Maßnahmen wie Klimaanpassung oder aktivem Massagesitz könnte dann eine Stresssituation gelindert werden. Bei Daimler denkt man auch über den „Arzt an Bord“ nach: Legt ein Insasse die Hand auf den Türgriff, erhält er ein kostenloses EKG.
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