17.1.2018 – Während vor 20 Jahren noch weltweit ein absolutes Verbot von Cannabis angestrebt wurde, findet derzeit eine Liberalisierung statt. Im ersten Schritt hat der Bundestag einstimmig den Einsatz zur Therapie von Schmerzpatienten befürwortet. Offiziell dürfen sie den Stoff in der Öffentlichkeit konsumieren – und damit auch Autofahren. Der Turning Point für eine allgemeine Hanffreigabe scheint erreicht. Allerdings noch nicht im Alltag der Patienten, wenn sie am Steuer sitzen: Ihre Fahreignung wird immer wieder infrage gestellt.
Erst mit Cannabis im Blut kann Bernd D. Auto fahren. Er leidet unter Morbus Scheuermann, einer schmerzhaften Wirbelsäulenverkrümmung. Herkömmliche Schmerzmittel belasten seinen Leber- und Magen-Darm-Trakt. Hanf ist chemiefrei und enthält die schmerzlindernde Rauschsubstanz THC (Tetrahydrocannabinol). Seit Anfang März dürfen Ärzte Schwerkranken die Blütenblätter oder ein Extrakt des Rauschmittels verschreiben. Mittlerweile haben mehr als 1000 Patienten ein Rezept beantragt. Obwohl legal hinter dem Steuer, behandelt man sie mit Argwohn.
„Mir sind Fälle bekannt, bei denen Cannabispatienten von der Polizei ganz bewusst beobachtet und kontrolliert werden“, berichtet Frank Tempel, drogenpolitischer Sprecher “Die Linke”. Im Übereifer behandeln sie bei Verkehrskontrollen die Kranken wie kriminalisierte Junkies bei einer Drogenfahrt. Beim ersten Anscheinbeweis wird eine Blutprobe veranlasst und die Verkehrsbehörde informiert. Je nach Eifer der Verwaltungsbehörde folgen Ermittlungen und aufwändige ärztliche Gutachten. Von der Bundesregierung fordert Oppositionspolitiker Tempel eindeutige Verhaltensregeln für den Umgang mit den Kranken. Und von der Polizei „einen Mentalitätswechsel“.
Gezielte Drogenkontrollen bei Cannabis-Patienten verurteilt auch Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin. Zudem weist er auf fehlende wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse zur Fahrtüchtigkeit hin. Denn die Wirkungsweise des Hanf ist schwerer zu bestimmen als die von Alkohol. “Dass Autofahrern bei einer willkürlich festgelegten Grenze auch noch der Führerschein entzogen wird, ist völlig unangemessen.” Nach der Rechtsprechung liegt der Grenzwert bei einem Nanogramm THC je Milliliter Blutextrakt. Er sage aber nichts über die tatsächliche Fahrtauglichkeit aus, erläutert Mediziner Jonitz. “Zwar sind sogenannte ‚flash-backs‘ (Rückblenden) nicht auszuschließen, ob diese risikoreicher als Müdigkeit oder Alkoholgenuss sind, ist äußerst fraglich”. Je nach Studien aus den USA steigt oder fällt das Unfallrisiko. Nach der jüngsten bundesweiten Straßenverkehrsstatistik sind etwa neun von zehn Unfällen unter dem “Einfluss berauschender Mittel” Alkoholunfälle.